Karsten Habighorst: Auf der Allee
Eröffnungsrede, Produzentengalerie

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Karsten Habighorst,

„Auf der Allee“ promeniert ein merkwürdiges Wesen. Auf eine Faust erscheint ein Totenschädel wie aufgeschraubt, seine Nahtstelle setzt sich in der Horizontlinie fort. In der kargen Landschaft mit winterlich laublosen Bäumen erhebt sich der Schädel geradezu felsmassivartig monumental. Die fünf Finger der Hand, die sich auf den Boden stützen, werden zu Wurzeln, die das Mischwesen in der Erde verankern. Der Schädel, den der Künstler als klassisches Vanitasmotiv, als Verweis auf den Tod, leitmotivisch einsetzt, ist für Habighorst aber auch der Ort, an dem das Denken angesiedelt ist. In Verbindung mit der Faust erhält es seine Fundierung im Tun, in der Tatkraft, vielleicht auch in der künstlerisch-handwerklichen Schaffenskraft. „Geschrieben steht ‚Im Anfang war das Wort’“ lautet eine Zeile des Monologs, in dem Goethes Doktor Faust die Problematik der Übersetzung der Anfangszeile des Johannes-Evangeliums fasst, bis er zu dem Schluss kommt, weder Wort, Sinn noch Kraft, sondern die Tat sei gemeint. Wort oder Tat? Kopf oder Hand? Denken oder Tun? Dass das eine nicht ohne das andere vorstellbar ist, fasst Habighorst in seiner programmatisch verdichteten Zeichnung, nicht ohne möglicherweise („unbewusst, höchste Lust“, pflegte Doktor Freud zu sagen) auch den nachdenkenden Doktor Faust in der geballten Hand anklingen zu lassen.

Der Spaziergang, den Karsten Habighorsts Titel „Auf der Allee“ für diese Ausstellung (und den Katalog) seiner Zeichnungen von 2012 und 2013 anklingen lässt, erweist sich als Gedankenreise, als Lebensreise vielleicht auch. Mehrfach taucht der gewundene Weg zwischen schattenwerfenden Kugelbäumen auf, auf dem sich seine fragmentierten Körper bewegen, innehalten, sich wegducken, sich beugen und verzerren.

Karsten Habighorst zeichnet Körper in Räumen, und mit ihnen auch menschliche Grenzsituationen, die sich in den gequälten gewundenen Leibern und den manchmal wie zu Hilfeschreien geöffneten Mündern manifestieren. Aus häufig einfachen Grundkonstellationen wie Figur und Gegenstand im Raum entwirft er Szenarien existentieller Erfahrungen.

So zeigt eine Zeichnung eine in sich verschraubte menschliche Figur mit kompaktem Rumpf und massivem Vorderfuß in einen Kubus wie in einen Glaskäfig gesperrt. Allein der leicht geneigte Kopf ragt aus dem Glasgefäß heraus, das ihn umgibt wie eine Membran – schützend, aber auch isolierend. Die nach innen vor die Brust gelegten Hände scheinen die Figur selbst zu zeichnen, eine Figur in der Entstehung, Formung wie aus einem Tonklumpen heraus, betrachtet man die aus Rundformen modellierten Körperpartien im Kontrast zu dem zeichnerisch kargen, reduzierten Oberkörper und Kopf der Figur. Ein System der Kontraste wird deutlich, das viele Zeichnungen des Künstlers charakterisiert: skizzenhafte Verknappung versus malerisch modellierte Üppigkeit, kühles Schwarzweiß neben wärmeren Erdtönen.

Eine weibliche Figur auf einer leuchtendblau aquarellierten Fläche: ein nachdenkliches, schreitendes Wesen, dessen Füße jedoch durch Köpfe ersetzt sind, so dass das Wesen auf Schädeldecken herumzulaufen scheint. „Ich denke sowieso mit dem Knie“ stand auf der berühmten Postkarte von Joseph Beuys von 1977, ein Satz, mit dem er deutlich machte, dass das Denken kein allein im Hirn stattfindender Prozess, also nicht „kopflastig“ sei, sondern auch andere Körperregionen affiziere, als Gefühl und Gespür im Bauch – oder eben auch im Knie. Und so erscheint das Wesen nicht als plumper „Kopffüßler“, vielmehr als in alle Richtungen (nach oben, nach unten, nach vorn und nach hinten, nach innen und außen) die Sinne wie Antennen ausfahrendes Wesen. Ausgestellt wie in einem leeren Bühnenraum muss sich das Wesen in seiner Alleinheit und vielleicht auch Einsamkeit beweisen. Die linke Hand hat es hinter die Ohren gelegt, so als wolle es den Geräuschen aus dem Zuschauerraum lauschen, alle aufnehmen und empfangen.

Völlig ohne Hintergrund (und sei er noch so kärglich wie die im eben besprochenen Bild angedeuteten Architekturelemente), bodenlos wie fußlos, finden wir ein weiteres menschenähnliches Wesen. Ein im Vergleich zum puppenhaften Körper riesenhafter Kopf und ein relativ muskulöser Arm bestimmen das Wesen, das sich auf seinen Beinstümpfen und dem zerbrechlich wirkenden Körperchen zu behaupten scheint. Denn der Blick erscheint eigensinnig-skeptisch, aber klar, die Haltung aufrecht, die Figur stabil. Kraftvoll und zart, in Partien malerisch durchgebildet und skizzenhaft fragil zugleich, düster und leicht, strahlt die Figur etwas Kindliches und Altkluges, Ruhe und Dynamik, Kraft und Kontemplation, zugleich aus.

Karsten Habighorsts Zeichnungen können leicht oder schwer, malerisch oder skizzenhaft-flüchtig sein. In seiner Auswahl für die Produzentengalerie hat er sich für die leichteren, luftigeren Zeichnungen entschieden, die dennoch durchaus inhaltsschwer sein können. Doch vielleicht ist gerade das auch sein Können: Mit wenigen Elementen (Schädel, Körper, Architektur- und Landschaftsfragmenten) und vielfach nur wenigen Strichen Welten zu erschaffen, große Themen anzusprechen, aber, indem er sie flüchtig und leicht erscheinen lässt, den Betrachter nicht mit Bedeutung zu überfrachten.

Denn letztlich geht es ihm um existentielle Themen, um die Erfahrung des Menschseins in der Welt. In seinen Bildern von Räumen und Körpern erschafft er Bilder vom Leben und vom Tod.


Christiane Heuwinkel

Alle Text, Bild- und Fotorechte in dieser Veröffentlichung liegen bei Karsten Habighorst. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der photomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten.

(C) VG-Bild, Bonn